Chris Weinheimer


Analyse, Notation und Erfindung von (musikalischen) Realitäten

Alle Erfahrung ist subjektiv.. unsere Gehirne (machen) die Bilder.. die wir ‚wahrzunehmen’ glauben. Es ist bezeichnend, dass alle Wahrnehmung – alle bewusste Wahrnehmung – bildliche Charakteristika hat. Ein Schmerz ist irgendwo lokalisiert. Er hat einen Anfang und ein Ende, ist irgendwo und hebt sich von einem Hintergrund ab. Das sind die elementaren Bestandteile eines Bildes.. In diesem Masse sind Objekte meine Produkte, und meine Erfahrung von ihnen ist subjektiv, nicht objektiv.“ Gregory Bateson, „Mind and Nature“

Es ist notwendig, sich ganz klar der universellen Wahrheit bewusst zu werden, daß alle ‚Dinge’, egal was sie in ihrer pleromatischen und dinglichen Welt auch sein mögen, in die Welt der Kommunikation und Bedeutung nur durch ihre Namen, ihre Qualitäten und ihre Attribute eintreten können (d.h. durch Darstellungen ihrer inneren und äußeren Relationen sowie ihrer Wechselwirkungen). G. Bateson, ebd.

Schon immer begleitet die Musik das Problem der Notation. Sei es zur Ermöglichung der Wiederholbarkeit, zur Lehre oder zur Analyse: man hat immer eine materialisierte Form, eine Abbildung dieses flüchtigen Phänomens gesucht. Und schon immer hat die jeweilige Form der Aufzeichnung für sich den Status der Objektivität, der maximalen Genauigkeit reklamiert. Es ist daher weder möglich noch sinnvoll, eine für alle Zeiten verbindliche Notation zu erfinden. Aber aus einer veränderten Kompositionspraxis und aus dadurch veränderten Ansprüchen an Musiker, Theoretiker und Hörer ergibt sich immer wieder die Notwendigkeit einer Aktualisierung der Beschreibungs- und Aufzeichnungsmöglichkeiten von Musik. Beispielsweise stellen sich bei der Beschreibung von Geräuschen schon durch die Unmöglichkeit, eine Tonhöhe zu fixieren, erhebliche Probleme. So ist es folgerichtig, das Komponisten1 versuchen, das analytische Vokabular zu ergänzen. Außerdem gibt es zahlreiche Versuche, die Notenschrift zu aktualisieren, wobei diese individuellen Ansätze meist nicht zu allgemein verbindlichen Ergebnissen führen. Vielmehr stellen sowohl die Analyse- als auch die Notationsverfahren in der Regel das Werkzeug einer bestimmten Theorie über Musik dar. Sie setzen eine bestimmte Ansicht, einen Aspekt von Musik um. Das tut auch die folgende Abhandlung. Auch sie tut es mit dem Ziel, möglichst neutral verschiedenste (auch klangliche) Ereignisse zu beschreiben. Vor allem aber möchte ich ein Vokabular finden, mit dem man Musik denken kann, die wie beispielsweise Cages „Variations“ oder Stockhausens „für kommende Zeiten“ im Grenzbereich von Performance spielt, ja die sogar als wahrnehmungstheoretische oder soziologische, ästhetische oder philosophische Reflektion daherkommt.
Das bedeutet, es geht mir nicht nur um eine Gliederung der musikalischen Wahrnehmung, sondern vordringlich um Begriffe als Werkzeuge, mit denen man Prozesse des Erfindens und Vereinbarungen zum Erfinden von Realitäten besprechen kann. Es geht mir also um die Tatsache, das der Autor in der Regel nicht die selben Regeln benutzt wie der Analytiker und die Frage, wie ich diese anderen, subjektiven, möglicherweise sogar einmaligen (in diesem letzten Fall könnte man sie aber schwerlich noch so nennen) Regeln aufspüren kann. Das ich dabei in der Nähe einer Wahrnehmungs- oder gar Erkenntnistheorie lande, ist in meinem Sinne. Denn was ist wahrnehmen, reflektieren und planen anderes als „Analyse, Notation und Erfindung von Realitäten“.


Parameter 1. Ordnung

Die rein physikalische Untersuchung von Klang, die Spektralanalyse, ergibt den Ansatz zu einer Terminologie, welche versucht, Musik zunächst als Klangereignis, in der Folge „Objekt“ genannt, zu beschreiben. Dazu muss ich dieses Ereignis lokalisieren, ihm einen Anfang und ein Ende geben und es vor allem von seinem Hintergrund unterscheiden. Die Beschreibung der Objekte erfolgt über physikalische Parameter :

  1. Frequenz ( - des markantesten Teiltones als „Tonhöhe“, - der Obertöne als „Klangfarbe“)

  2. Amplitude („Lautstärke“ des Klangs) und

  3. Dauer

Dies sind meine „Parameter 1. Ordnung“. Sie beschreiben ein musikalisches Objekt als einen messbaren Gegenstand. Das ist nur möglich, indem man einen bestimmten Zeitpunkt zum Messpunkt erklärt und einen Kontinuität der Parameter für die Dauer des Objektes annimmt. Diese Dauer wird definiert, sie entspricht dem Rahmen, den ich um mein Objekt herum setzte. Bis wohin es noch „eines“ ist, bestimme ich durch meinen Blickpunkt.

Auf dieser Basis lässt sich die Abbildung eines Klangobjektes sogar maschinell anfertigen, eine „Phonographie“ im direktesten Sinne, die das Klangereignis genauestens abbildet, ein Spektrogramm. Dies stellt einen, möglichen Aspekt2 von Klang dar. Er hilft „Dinge“ zu benennen, zu begreifen, zu bewegen. Er zeigt mir ein Umgrenztes, Unveränderliches. Es ist, als würde ich ein Ding beschreiben, etwas durch die Quantifizierung seiner Attribute künstlich stabilisieren.

Ein einzelner Ton bzw. Klang wird fokussiert, benannt: „A’’, ½ Note bei MM 80, mezzopiano“ oder „460 Hz mit 35db 12sec.“ Beiseite gelassen wird: wer „spielt“ den Ton, seine Mimik, seine Kleidung, das Licht und die Tatsache, dass eine solcher Ton so niemals erklingen kann. Er stellt eine Abstraktion dar.


Parameter 2. Ordnung

Da sich die angenommene Zeitlosigkeit des Ereignisses und die Definition eines musikalischen Ereignisses als Gegenstand etwas abstrakt anfühlen, müssen wir die Zeit des Ereignisses genauer untersuchen. Wenn man sich nun darauf konzentriert, wie sich die Parameter 1. Ordnung verändern, was sie ja in der Tat ständig tun, so beobachtet und beschreibt man Prozesse statt Gegenstände: Glissandi bzw., Farbglissandi statt Frequenzen, De(Crescendi) statt Pegel. So können wir Prozesse beschreiben, die zwei Rahmendefinitionen beinhalten: zum ersten der um den Prozess herum, eine Abstraktion ähnlich der Begrenzung des Objektes. Zusätzlich aber noch den Aspekt, den Parameter, den ich ins Zentrum meiner Beobachtung gestellt habe, um überhaupt einen Prozess zu erhalten. Diese beiden verschmelzen aber zu einem Aspekt. Denn da wo das Crescendo, über das ich den Prozess definiere, zuende ist, setze ich auch den Rahmen des Prozesses. So gewinne ich einen weiteren, möglichen Aspekt von Klang. Er hilft, „Entwicklungen“ zu beobachten, zu benennen, zu begreifen, zu bewegen. Er zeigt mir ein Umgrenztes, Bewegtes.

Eine Entwicklung, ein Prozess wird fokussiert: „Glissando von A’’ nach E’’’ in 5 ¼ bei MM 60, forte“ oder „Crescendo weisses Rauschen von 12db bis 46db, kontinuierlich innerhalb von 40 sec.“ Man merkt, es bahnt sich die nächste Kategorie an, die Beziehung von Objekten und/oder Prozessen.


Parameter 3. Ordnung

Nun, da wir einzelne Ereignisse und Entwicklungen aus der Musik herauspräpariert, analysiert haben, setzen wir sie wieder zusammen. Zunächst eine definierte Anzahl von Objekten und/ oder Prozessen. Dabei beobachten wir wieder unter einem jeweils willkürlich definierten Aspekt. Wir stellen eine Beziehung her zwischen den Objekten und Prozessen, die wir aus bestimmten Aspekten gewonnen haben. Das machen wir, indem wir die Objekte/Prozesse analysieren und sie dann vergleichen, Gleichheiten wahrnehmen. Diese Verwandtschaften, Ähnlichkeiten basieren auf den Parametern aller Ordnungsstufen. Das beginnt mit dem Vergleich der Tonhöhen, Intervallik, Melodik bis hin zur Harmonik. Weiterhin entstehen Kriterien wie Balance, Räumlichkeit und teilweise Instrumentation durch den Vergleich der Lautstärken3. Außerdem kann man auf der zeitlichen Ebene die Rhythmik als eine Beziehung zwischen Tönen und Pausen beschreiben, die wiederum durch ihre Dauern definiert sind. Auch die von Cage sogenannte „earliest occurrence“, das erste Vorkommen eines Tones in der Zeit, gehört zu diesem Aspekt. Willkürlich beschränkt auf eine bestimmte Anzahl von Bezügen, haben wir doch die verschiedensten Ebenen, auf denen sich diese Beziehungen abspielen. So ergibt sich durch Accelerando in einer Stimme bei einer ansonsten objektartig statischen Musik eine Beziehung zwischen Beziehungen. Auch die höchste Ordnungsstufe ermöglicht solche Bezüge. Dramaturgie ist eine Art Sinnrhythmik.

Auf diese Art entsteht ein weiterer, möglicher Aspekt. Er hilft, dem Sinn und der Machart von Musik auf die Spur zu kommen. Er zieht aber auch die ganze Komplexität des Musikstückes nach sich. Er zeigt mir Umgrenztes, Bewegtes aufeinander Bezogenes, Muster, Struktur. Hier scheint sich der logische Typ, die Kategorie der Beschreibung in besonderer Weise zu verschieben: diese Beschreibung weitet sich zwingend auf die Realität, auf die (außermusikalischen) Bezüge aus.

Eine oder mehrere Beziehungen zwischen musikalischen/klanglichen Objekten oder Prozessen werden fokussiert: „kleine Septime“, „Accelerando von MM 40 auf 80“, „Tremolo zwischen b und h“. Eine musikalische Passage wird als eine „immer schnellere Abfolge von musikalischen Zitaten“ begriffen, als Collage. Das führt uns zu der Entgrenzung in Richtung außermusikalische Beziehungen


Parameter 4. Ordnung

Musik findet in der Welt statt. Wenn ich im letzen Schritt die Begrenzung der Anzahl von betrachteten Beziehungen fallen lasse, vor allem die Begrenzung auf „musikalische“ Beziehungen, dann komme ich in die Welt. Hier gibt es dann unendlich viele Konnotationen. Hier erst erhält Musik eine Wirklichkeit, eine Wirkung, eine Bedeutung, sei sie politisch, ästhetisch, biographisch; all dies im übrigen wiederum Aspekte4. Dramaturgie entsteht auf dieser Ebene, die Verbindung zu anderen Kunstformen wie Theater und Film. Die körperliche und geistige Verfasstheit der Hörer oder Spieler lässt sich hier erfassen. Aber ich muss die Konnotationen definieren, also begrenzen. Selbst wenn ich keine ausschließe, so kann ich doch nicht jederzeit alle einschließen. Und ich muss eine, die gemeinte, bestimmte einschließen. Dieser ständige Prozess der Fokussierung erzeugt eine Folge von möglichen Aspekten, sie zeigen mir Welt.

Jedwede Beziehungen werden fokussiert. Es entstehen so - nicht auf Klang oder gar Musik begrenzte - Objekte, Prozesse und Beziehungen zwischen diesen. Anders gesagt: die ersten drei Schritte meiner Überlegungen wiederholen sich noch einmal im freien Raum, in der Welt; es wird der Raum der Musik geöffnet für die Welt.

Diese Beobachtungen sind einmalig. Sie erzeugen folglich keine Regeln, sondern sie machen die Analyse zur Poesie. Sie ermöglichen das „interessante“ Gespräch, bei dem sich alle Sprecher im gleichen Raum befinden, in der Realität.


Anwendung

Untersuchen wir nun, ob diese Nomenklatur die Anzahl der Optionen erhöht, ob sie mehr Neues ermöglicht als sie Altes ausschließt. Fragen wir also, ob sie eine nützliche Redeweise ist.

Sicherlich ist es eine ihrer Stärken, dass sie die Definition von einzelnen Teilen eines Ereignisses unabhängig von einer überkommenen musikalischen Tradition ermöglicht.5 Auch kann, ja muss man eine eigene Definition eines Objektes, Prozesses oder einer Beziehung wagen und kann sie dank der Präzisierung ihrer Bestandteile kommunikabel machen. Die Aufforderung, Dinge derart neu zu umreißen, erzeugt vielleicht einen neuen Aspekt gegenüber „altem“ Material. Man kann zum Beispiel Vibrato präzisieren, analysieren als musikalischen Vorgang: eine Tonhöhen – Klangfarben - oder Lautstärkeschwankung anstatt einer Manier. Die Gewohnheiten, die Heimat ( wie Villem Flusser es nennt: „die Heimlichtuerei um Gewöhnliches“) könnten einer ständigen und systematischen Hinterfragung sämtlicher Definitionen und Beziehungen geopfert werden. Daraus folgende neu entstehende subjektive Denotationen und Unterscheidungen könnten kommuniziert werden und so eine sich immer weiter entwickelnde intersubjektive Grundlage für Analyse und Erfindung werden. So müsste man sich Fragen stellen, die nicht mehr ohne weiteres begrenzbar sind auf bestimmte Ebenen ( wie „Material“ oder „Dramaturgie“), zum Beispiel: „Wenn mir ein Parameter wichtig ist, was tue ich damit? Definiere ich ihn präzise? Oder stelle ich ihn frei, so dass die Neugier, der Sog der Freiheit oder gar der „horror vacui“ für größtmögliche Aufmerksamkeit auf diesen Parameter sorgt?“.

Und daraus folgt natürlich direkt die Reflektion meiner eigenen Motive: „Ich habe Angst mit meiner Realitätskonstruktion alleine zu sein. Ich möchte Dinge „verachten“ können. Das kann ich nur, wenn ich sie geordnet habe (also definiert, begriffen, etc.)“

Was natürlich direkt auf diese meine „Dinge“, die in dieser Theorie postulierten Objekte, Prozesse und ihre Beziehungen bezogen werden muss.

Ziel des ganzen wäre ein „Musiker“, im Sinne von Schaffender (ob Interpret, Komponist oder Performer, Schauspieler etc.) der sich mit den physiologischen, sozialen, den politischen, ästhetischen und philosophischen Implikationen seiner Arbeit genauso systematisch auseinandersetzt wie mit der Organisation seiner Tonhöhen oder der Tradition seines (von überkommenen Aspekten umgrenzten) „Mediums“ und dessen Poesie Raum greift in Theorie und Praxis seines Mediums.


1 so beispielsweise H. Lachenmann in seinem Aufsatz „Klangtypen neuer Musik“

2 Man könnte auch sagen: ..einen logischen Typ in der (sprachlichen) Darstellung von Klang.

3 Genaugenommen ist auch die Klangfarbe ein solcher Parameter dritter Ordnung: sie kann als das Verhältnis der Lautstärken und Tonhöhen der einzelnen Obertöne analysiert werden. Die Einschwingvorgänge eines instrumentalen Klanges würden dazu noch die Entwicklung dieser Elemente einbeziehen: So könnte der einzelne Ton eines Instrumentes einmal unter dem Aspekt der Parameter erster Ordnung und einmal unter dem der Parameter dritter Ordnung beschrieben werden. Welchen Aspekt ich wähle, hängt einzig vom Ziel meiner Analyse ab.

4 Die Idee der absoluten Musik ( wie auch die Ansicht, dass beispielsweise Leute wie Wagner oder Heidegger über ihren politischen Bezügen stehend von diesen unabhängige Kunst oder Philosophie gemacht haben) verkennt, das jede Bedeutung im Betrachter entsteht. Und der sucht immer nach Konnotationen. Das ist seine menschliche Natur.

5 Die Achtsamkeit gegenüber neuen mechanischen Denkgewohnheiten bleibt oberstes Gebot